Die Briefwahl als Demokratiegefährder?
Kurz vor der Wahl zum Europäischen Parlament hat der Bundeswahlleiter Bedenken an der Verfassungskonformität der Briefwahl geäußert und damit eine Debatte ausgelöst. Georg Thiel sieht bei der Abstimmung per Post den Grundsatz der Gleichheit und Geheimhaltung gefährdet. Diese Kritik ist weder neu noch ungerechtfertigt, doch angesichts der heutigen mobilen Gesellschaft wirkt sie dennoch fehl am Platz. Zudem gäbe es weitaus wichtigere Wahlthemen.
Georg Thiel ist der Präsident des Statistischen Bundesamts. Ein Mann also, der sich mit Zahlen auskennt. Und in Bezug auf den prozentualen Anteil von Briefwählern sind die Zahlen der letzten Jahre aus seiner Sicht erschreckend. Bei der Europawahl 2014 etwa hatte rund ein Viertel der stimmberechtigten Wähler per Brief abgestimmt. Bei der Wahl zum Bundestag drei Jahre später waren es sogar 28,6 Prozent. Thiel erkennt in diesem Prozess eine Gefahr, wie er gegenüber verschiedenen Medien geäußert hat.
Sinn und Historie der Briefwahl
Der Sinn der Briefwahl besteht darin, dafür zu sorgen, dass jeder stimmberechtigte Bürger an einer Wahl teilnehmen kann. Salopp formuliert sollen durch diese Möglichkeit alle Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, die beim Gang zur Wahlurne bestehen könnten. Dazu gehören etwa körperliche Gebrechen durch ein hohes Alter, eine Krankheit oder schlicht die berufs- oder urlaubsbedingte Nicht-Anwesenheit am Wahltag. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber 1957 die Briefwahl in Deutschland eingeführt.
Lange Zeit wurde sogar eine glaubhafte Begründung für die Entscheidung zur Briefwahl verlangt. Erst seit 2008 können Stimmberechtigte ihr Wahlrecht per Brief ausüben, ohne sich dafür „rechtfertigen“ zu müssen. Da die Beantragung der Briefwahl mittlerweile online möglich ist, wurde der Vorgang weiter vereinfacht. Wohl nicht zuletzt deshalb steigt der Anteil an Briefwählern stetig – und damit die Manipulationsgefahr, wie Thiel betont.
Knackpunkt: Grundsatz der Geheimhaltung
Gemäß Artikel 38 des Grundgesetzes werden Abgeordnete „in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl“ gewählt. Bei einer Briefwahl ist der Grundsatz der Geheimhaltung und Freiheit tatsächlich nicht zu gewährleisten. So könnten Stimmberechtigte zu Hause unter Druck gesetzt werden, das Kreuz bei einer bestimmten Partei oder Person zu setzen. Oder der Wahlzettel wird direkt von einer Person ausgefüllt, die Macht ausüben kann.
Zwei Skandalfälle von Wahlmanipulation in der Vergangenheit
Zwei Skandalfälle dieser Art wurden in Deutschland in jüngerer Zeit publik: Bei der niedersächsischen Kommunalwahl 2016 in Quakenbrück hatten vier Politiker der Linkspartei Wähler mit geringen Deutschkenntnissen dazu gebracht, eine Briefwahl zu beantragen. Die Politiker füllten die Stimmzettel teilweise eigenmächtig aus und fälschten in einigen Fällen auch die Unterschriften. Im vergangenen Jahr fand der Prozess statt, die Beschuldigten erhielten verschiedene Bewährungsstrafen.
Einen weiteren Vorfall gab es bei den Kommunalwahlen 2014 in Stendal. Dort wurden Briefwahlunterlagen gefälscht und Wahlzettel von Dritten ausgefüllt. Doch auch dieser Betrug flog auf, ein CDU-Stadtrat wurde zu zweieinhalb Jahren Haft wegen Wahl- und Urkundenfälschung verurteilt. Dennoch ist die von Thiel befürchtete Manipulationsgefahr durchaus nachvollziehbar und nicht neu. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit diesem Risiko bereits vor rund sechs Jahren auseinandergesetzt – und andere Güter als wichtiger eingestuft.
Verfassungsgericht bestätigt Konformität der Briefwahl
Mit anderen Worten: Man muss den Menschen zugestehen, dass sie nicht an einem bestimmten Tag zu Hause sein müssen, um ihr Wahlrecht auszuüben. Ihnen muss eine Alternative angeboten werden – ohne die Forderung nach einem triftigen Grund. Die Richter haben sich bei dieser Entscheidung „von dem Ziel leiten lassen, eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen.“ Die Pflicht zur Begründung der Briefwahl hatte sich nach Einschätzung des Gerichts „als praktisch nutzlos erwiesen, da eine auch nur stichprobenartige Prüfung […] nicht möglich war.“
Gleichheit der Wahl gefährdet?
Dieses Argument bezieht sich jedoch auf ein theoretisches Konstrukt mit zwei Grundannahmen: Erstens beschäftigen sich die Briefwähler tatsächlich mit der politischen Berichterstattung und zweitens handelt es sich dabei überwiegend um Wechselwähler, deren Entschluss nicht schon lange vor der Wahl feststeht. Das Bundesverfassungsgericht ging in seinem Beschluss von 2013 nicht näher auf dieses Argument ein, weil es im Vergleich zum Geheimhaltungsgrundsatz vernachlässigbar erscheint. Briefwähler nehmen bewusst in Kauf, auf kurzfristige Informationen zu verzichten.
Manipulationsrisiko wird in Kauf genommen
Papiertürme vermeiden: Nachhaltigkeit im Blick
Was bei der Europawahl 2019 aufgefallen ist und fast schon anachronistisch wirkt, sind die Papiertürme, die allen Stimmberechtigten ins Haus flatterten. Wer die Themen Klimaschutz und Nachhaltigkeit im Blick hat, dürfte sich die Frage stellen: Wieso existiert bislang keine Möglichkeit, sich die Wahlinformationen online zuschicken zu lassen? In einer Zeit, in der auch sensible Daten wie Krankenscheine und Steuerformulare elektronisch übermittelt werden, wäre das ein logischer Schritt.
Hätten Bürger per Zweifach- oder Dreifach-Authentifizierung die Möglichkeit, einen Haken bei „elektronischer Post“ bezüglich politischer Informationen zu setzen, wäre das angesichts der dicken Wahlwälzer ein erster Schritt zu einer moderneren Wahl. Rund 400 Millionen von Stimmberechtigten bei der Europawahl versprechen ein großes Potenzial für die Ressourcenschonung, von den vielen nationalen und lokalen Wahlen ganz zu schweigen. Junge Gruppierungen wie die „Fridays For Future“-Aktivisten würden diese Möglichkeit sicher begrüßen.
Zukunftsmusik: Ortsunabhängiges Wählen
Eine zweite Frage ist organisatorisch schwieriger zu lösen, aber nicht unmöglich: Warum sollte es in Zeiten der fortschreitenden Digitalisierung nicht möglich sein, seine Stimme an einem beliebigen Ort innerhalb des Heimatlandes (oder sogar Europas) abzugeben? Das setzt eine stärkere Vernetzung voraus und ist momentan noch Illusion, doch vor allem jüngere Generationen dürften den bisherigen Prozess in naher Zukunft in Frage stellen. Gut, wenn die Politik dann schon Lösungsansätze formulieren könnte.
Info: So wird das Wahlgeheimnis bei Briefwahlen sichergestellt
Das Wahlgeheimnis bei Briefwahlen wird sichergestellt, indem die Briefe bis zum Abstimmungstag unter Verschluss gehalten werden. Zudem müssen die Briefwahlbezirke so groß gewählt werden, dass nicht erkennbar ist, wie einzelne Wahlberechtigte abgestimmt haben.
Am Wahltag werden die Briefe ab etwa 15 Uhr geöffnet und es wird geprüft, ob der Wahlschein und der geschlossene Stimmzettelumschlag in Ordnung sind. Dann werden sie voneinander getrennt, sodass niemand herausfinden kann, wer wie gewählt hat. Die Stimmzettelumschläge landen anschließend in einer Wahlurne.
Mit Schließung der Wahllokale um 18 Uhr kommt ein Briefwahlvorstand aus drei bis fünf Personen zusammen, der die Urne öffnet und die Stimmen öffentlich auszählt. Die Ergebnisse der Briefwahl sind so bereits im vorläufigen Ergebnis enthalten.