Ist das Politik
oder kann das weg?

Die Dummheit von Regierungen sollte niemals unterschätzt werden.

Der Traum vieler Journalistik-Studenten dürfte sich ähneln: Eine Festanstellung als investigativer Redakteur beim SPIEGEL, dem Flaggschiff der deutschen Medienlandschaft. Dieses hehre Ziel war zumindest meine Motivation, als ich mich für Politik im Nebenfach entschied. Ziele ändern sich im Laufe des Lebens, aber das damals geweckte Politikinteresse hat auch heute noch Bestand. Und so verfolge ich nach wie vor mit großer Neugierde den Wahnsinn des politischen Tagesgeschehens, der mir selten ein Lachen und häufig Denkfalten beschert.

In meinem Blog thematisiere ich politische Ereignisse, die ich als besonders abstoßend und skurril, aber auch positiv und hoffnungsvoll einstufe. Ein Kandidat für Politikverdrossenheit bin auch nach vielen aufgedeckten Skandalen nicht geworden. Besonders spannend finde ich politische Lösungsansätze hinsichtlich Fragen nach der sozialen Gerechtigkeit – ein Interesse, das zu meinem Zweitstudium der Sozialen Arbeit führte. Mein Fokus liegt daher auf sozialpolitischen Themen.

Die Briefwahl steht immer wieder in der Kritik. © Bundo Kim / Unsplash
Die Briefwahl steht immer wieder in der Kritik – zu Recht? © Bundo Kim / Unsplash

Die Briefwahl als Demokratiegefährder?

Kurz vor der Wahl zum Europäischen Parlament hat der Bundeswahlleiter Bedenken an der Verfassungskonformität der Briefwahl geäußert und damit eine Debatte ausgelöst. Georg Thiel sieht bei der Abstimmung per Post den Grundsatz der Gleichheit und Geheimhaltung gefährdet. Diese Kritik ist weder neu noch ungerechtfertigt, doch angesichts der heutigen mobilen Gesellschaft wirkt sie dennoch fehl am Platz. Zudem gäbe es weitaus wichtigere Wahlthemen.

Georg Thiel ist der Präsident des Statistischen Bundesamts. Ein Mann also, der sich mit Zahlen auskennt. Und in Bezug auf den prozentualen Anteil von Briefwählern sind die Zahlen der letzten Jahre aus seiner Sicht erschreckend. Bei der Europawahl 2014 etwa hatte rund ein Viertel der stimmberechtigten Wähler per Brief abgestimmt. Bei der Wahl zum Bundestag drei Jahre später waren es sogar 28,6 Prozent. Thiel erkennt in diesem Prozess eine Gefahr, wie er gegenüber verschiedenen Medien geäußert hat.

Sinn und Historie der Briefwahl

Der Sinn der Briefwahl besteht darin, dafür zu sorgen, dass jeder stimmberechtigte Bürger an einer Wahl teilnehmen kann. Salopp formuliert sollen durch diese Möglichkeit alle Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, die beim Gang zur Wahlurne bestehen könnten. Dazu gehören etwa körperliche Gebrechen durch ein hohes Alter, eine Krankheit oder schlicht die berufs- oder urlaubsbedingte Nicht-Anwesenheit am Wahltag. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber 1957 die Briefwahl in Deutschland eingeführt.

Lange Zeit wurde sogar eine glaubhafte Begründung für die Entscheidung zur Briefwahl verlangt. Erst seit 2008 können Stimmberechtigte ihr Wahlrecht per Brief ausüben, ohne sich dafür „rechtfertigen“ zu müssen. Da die Beantragung der Briefwahl mittlerweile online möglich ist, wurde der Vorgang weiter vereinfacht. Wohl nicht zuletzt deshalb steigt der Anteil an Briefwählern stetig – und damit die Manipulationsgefahr, wie Thiel betont.

Knackpunkt: Grundsatz der Geheimhaltung

Gemäß Artikel 38 des Grundgesetzes werden Abgeordnete „in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl“ gewählt. Bei einer Briefwahl ist der Grundsatz der Geheimhaltung und Freiheit tatsächlich nicht zu gewährleisten. So könnten Stimmberechtigte zu Hause unter Druck gesetzt werden, das Kreuz bei einer bestimmten Partei oder Person zu setzen. Oder der Wahlzettel wird direkt von einer Person ausgefüllt, die Macht ausüben kann.

Zwei Skandalfälle von Wahlmanipulation in der Vergangenheit

Zwei Skandalfälle dieser Art wurden in Deutschland in jüngerer Zeit publik: Bei der niedersächsischen Kommunalwahl 2016 in Quakenbrück hatten vier Politiker der Linkspartei Wähler mit geringen Deutschkenntnissen dazu gebracht, eine Briefwahl zu beantragen. Die Politiker füllten die Stimmzettel teilweise eigenmächtig aus und fälschten in einigen Fällen auch die Unterschriften. Im vergangenen Jahr fand der Prozess statt, die Beschuldigten erhielten verschiedene Bewährungsstrafen.

Einen weiteren Vorfall gab es bei den Kommunalwahlen 2014 in Stendal. Dort wurden Briefwahlunterlagen gefälscht und Wahlzettel von Dritten ausgefüllt. Doch auch dieser Betrug flog auf, ein CDU-Stadtrat wurde zu zweieinhalb Jahren Haft wegen Wahl- und Urkundenfälschung verurteilt. Dennoch ist die von Thiel befürchtete Manipulationsgefahr durchaus nachvollziehbar und nicht neu. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit diesem Risiko bereits vor rund sechs Jahren auseinandergesetzt – und andere Güter als wichtiger eingestuft.

Verfassungsgericht bestätigt Konformität der Briefwahl

In einem Beschluss vom 9. Juli 2013 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Ermöglichung der Briefwahl (auch ohne Angaben von Gründen) verfassungskonform ist. In der Begründung ist zu lesen, dass die Richter dem Grundsatz der Allgemeinheit einen höheren Wert als dem Grundsatz der Geheimhaltung einräumen. Das Gericht bezieht sich dabei „auf die zunehmende Mobilität in der heutigen Gesellschaft und eine verstärkte Hinwendung zu individueller Lebensgestaltung.“
 

Mit anderen Worten: Man muss den Menschen zugestehen, dass sie nicht an einem bestimmten Tag zu Hause sein müssen, um ihr Wahlrecht auszuüben. Ihnen muss eine Alternative angeboten werden – ohne die Forderung nach einem triftigen Grund. Die Richter haben sich bei dieser Entscheidung „von dem Ziel leiten lassen, eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen.“ Die Pflicht zur Begründung der Briefwahl hatte sich nach Einschätzung des Gerichts „als praktisch nutzlos erwiesen, da eine auch nur stichprobenartige Prüfung […] nicht möglich war.“

Gleichheit der Wahl gefährdet?

Das zweite Argument gegen eine Briefwahl betrifft den Grundsatz der Gleichheit. Im Gesetz ist vorgesehen, dass jeder Wähler bei der Stimmabgabe den gleichen Wissensstand haben können sollte. Das ist bei der Briefwahl nicht möglich: Wer seine Stimme früh abgibt, kann aktuelle Ereignisse nicht berücksichtigen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Skandal um Heinz-Christian Strache in Österreich. Hätten die Briefwähler, die vor Bekanntwerden des Skandals ihre Stimme abgegeben haben, am Wahltag eine andere Entscheidung getroffen?
 

Dieses Argument bezieht sich jedoch auf ein theoretisches Konstrukt mit zwei Grundannahmen: Erstens beschäftigen sich die Briefwähler tatsächlich mit der politischen Berichterstattung und zweitens handelt es sich dabei überwiegend um Wechselwähler, deren Entschluss nicht schon lange vor der Wahl feststeht. Das Bundesverfassungsgericht ging in seinem Beschluss von 2013 nicht näher auf dieses Argument ein, weil es im Vergleich zum Geheimhaltungsgrundsatz vernachlässigbar erscheint. Briefwähler nehmen bewusst in Kauf, auf kurzfristige Informationen zu verzichten.

Manipulationsrisiko wird in Kauf genommen

Der Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts dürfte sich folglich auch 2019 nicht geändert haben: Zwar besteht nach wie vor ein gewisses Manipulationsrisiko bei der Briefwahl, doch angesichts der schwindenden Bereitschaft zur Stimmabgabe im Wahllokal müsste diese Gefahr in Kauf genommen werden. Nur so verliert die Politik nicht noch mehr Wähler und kann den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl erhalten.
 

Papiertürme vermeiden: Nachhaltigkeit im Blick

Was bei der Europawahl 2019 aufgefallen ist und fast schon anachronistisch wirkt, sind die Papiertürme, die allen Stimmberechtigten ins Haus flatterten. Wer die Themen Klimaschutz und Nachhaltigkeit im Blick hat, dürfte sich die Frage stellen: Wieso existiert bislang keine Möglichkeit, sich die Wahlinformationen online zuschicken zu lassen? In einer Zeit, in der auch sensible Daten wie Krankenscheine und Steuerformulare elektronisch übermittelt werden, wäre das ein logischer Schritt.

Hätten Bürger per Zweifach- oder Dreifach-Authentifizierung die Möglichkeit, einen Haken bei „elektronischer Post“ bezüglich politischer Informationen zu setzen, wäre das angesichts der dicken Wahlwälzer ein erster Schritt zu einer moderneren Wahl. Rund 400 Millionen von Stimmberechtigten bei der Europawahl versprechen ein großes Potenzial für die Ressourcenschonung, von den vielen nationalen und lokalen Wahlen ganz zu schweigen. Junge Gruppierungen wie die „Fridays For Future“-Aktivisten würden diese Möglichkeit sicher begrüßen.

Zukunftsmusik: Ortsunabhängiges Wählen

Eine zweite Frage ist organisatorisch schwieriger zu lösen, aber nicht unmöglich: Warum sollte es in Zeiten der fortschreitenden Digitalisierung nicht möglich sein, seine Stimme an einem beliebigen Ort innerhalb des Heimatlandes (oder sogar Europas) abzugeben? Das setzt eine stärkere Vernetzung voraus und ist momentan noch Illusion, doch vor allem jüngere Generationen dürften den bisherigen Prozess in naher Zukunft in Frage stellen. Gut, wenn die Politik dann schon Lösungsansätze formulieren könnte.

Info: So wird das Wahlgeheimnis bei Briefwahlen sichergestellt

Das Wahlgeheimnis bei Briefwahlen wird sichergestellt, indem die Briefe bis zum Abstimmungstag unter Verschluss gehalten werden. Zudem müssen die Briefwahlbezirke so groß gewählt werden, dass nicht erkennbar ist, wie einzelne Wahlberechtigte abgestimmt haben.

Am Wahltag werden die Briefe ab etwa 15 Uhr geöffnet und es wird geprüft, ob der Wahlschein und der geschlossene Stimmzettelumschlag in Ordnung sind. Dann werden sie voneinander getrennt, sodass niemand herausfinden kann, wer wie gewählt hat. Die Stimmzettelumschläge landen anschließend in einer Wahlurne.

Mit Schließung der Wahllokale um 18 Uhr kommt ein Briefwahlvorstand aus drei bis fünf Personen zusammen, der die Urne öffnet und die Stimmen öffentlich auszählt. Die Ergebnisse der Briefwahl sind so bereits im vorläufigen Ergebnis enthalten.

Sollte man sich mit reicheren Menschen vergleichen oder ist das die perfekte Anleitung zum Unglücklichsein? © Matt Lamers / Unsplash
Sollte man sich mit reicheren Menschen vergleichen? © Matt Lamers / Unsplash

Vergleichst Du noch oder lebst Du schon?

Im Frühjahr 2019 wurde in Deutschland wieder eine große Gerechtigkeitsdebatte angestoßen. Auslöser war eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, in der die 402 Kreise und kreisfreien Städte hinsichtlich ihrer Lebensqualität untersucht wurden. Grob zusammengefasst gibt es ein Ost-West-, stärker aber ein Nord-Süd-Gefälle. Am meisten verdient man in der Nähe von München, am wenigsten in Gelsenkirchen. Ungerecht? Sicher. Doch die Frage ist stets, mit wem man sich vergleicht – und ob das überhaupt sinnvoll ist.

Das Besondere am sogenannten Sozioökonomischen Disparitätenbericht 2019 ist das Design der Studie: Neben den gängigen Kriterien wie Einkommen und Altersstruktur werden auch Faktoren wie der Anteil an Hochschulabsolventen, die Verschuldung der Kommune, die Investitionen in die Infrastruktur oder die Entfernung zum nächsten Hausarzt berücksichtigt. Auf diese Weise soll die Lebensqualität in einzelnen Regionen und Städten abgebildet werden.

Studie: Verknüpfung von zehn Indikatoren

Insgesamt haben die Autoren der Studie zehn Indikatoren miteinander verknüpft, aus denen sich fünf verschiedene Muster herauslesen lesen. So werden dynamische Städte, ein starkes Umland, eine solide Mitte, benachteiligte ländliche Regionen und Städte in einer permanenten Strukturkrise unterschieden. Durch diese Herangehensweise ergibt sich im Osten Deutschlands ein etwas ambivalenteres Bild als üblich. So findet man neben strukturschwachen Räumen auch zahlreiche wirtschaftlich prosperierende Städte wie Leipzig, Dresden, Magdeburg, Chemnitz, Jena, Erfurt, Weimar, Schwerin und Rostock. Und umgekehrt lassen sich auch im Westen strukturschwache Städte wie Saarbrücken, Offenbach am Main, Kaiserslautern, Worms, Trier, Bremen und Bremerhaven aufspüren.

Geballte Lebensqualität im Süden: Geografische Ungerechtigkeit

Besonders viele Regionen mit hoher Lebensqualität befinden sich der Studie zufolge in Bayern und Baden-Württemberg, wohingegen der Norden strukturell benachteiligt scheint. Schlecht sieht es zudem traditionell im Ruhrgebiet aus. Städte wie Dortmund, Bochum, Essen, Duisburg und Gelsenkirchen stagnieren im Strukturwandel. Dieses Bild bestätigt auch eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, in der das verfügbare Jahreseinkommen von 2016 in den verschiedenen Städten und Regionen verglichen wurde.

Stärkste Städte/Regionen

Landkreis Starnberg
34.987 € (verfügbar. Jahreseinkommen 2016 im ø)
Stadt Heilbronn
32.366 €
Hochtaunuskreis
31.612 €

Schwächste Städte/Regionen

Stadt Gelsenkirchen
16.203 € (verfügbar. Jahreseinkommen 2016 im ø)
Stadt Duisburg
16.881 €
Stadt Halle (Saale)
17.218 €

Bei dieser Durchschnittsberechnung wird das gesamte Einkommen einer Region durch die Zahl der Einwohner geteilt, wodurch sich statistische Verzerrungen ergeben können. Leben beispielsweise überdurchschnittlich viele reiche Menschen in einer Region oder Stadt mit wenigen Einwohnern, kann das Durchschnittseinkommen positiv verzerrt werden. In Berlin ist dieser Verzerrungseffekt aufgrund der hohen Einwohnerzahl deutlich geringer. Dennoch lässt sich anhand dieser Studie ableiten, dass bezüglich der Einkommenshöhe und Lebensqualität eine geografische Ungerechtigkeit in Deutschland existiert. SPIEGEL ONLINE hat die Daten in einer interaktiven Grafik aufbereitet. 

Ungerechtigkeit zwischen den Branchen und Berufen

Neben der geografischen Ungerechtigkeit wird in regelmäßigem Turnus auch die branchenspezifische Ungerechtigkeit angeprangert. Insgesamt verdienen in Deutschland rund 3,3 Millionen Menschen in Vollzeit unter 2.000 Euro brutto. Besonders Reinigungskräfte und Angestellte in der Gastronomie sind davon betroffen, der Anteil beträgt laut SPIEGEL ONLINE 16 Prozent der Erwerbstätigen. In Mecklenburg-Vorpommern (32,6%) und Thüringen (30,2%) war dieser Anteil am größten, in Baden-Württemberg (11,4%) und Hamburg (11,5%) am niedrigsten. 

Akademiker verdienen im Durchschnitt deutlich mehr, doch auch hier gibt es große Unterschiede beim Einstiegsgehalt. Dem Job-Portal Absolventa zufolge liegt das jährliche Bruttogehalt 2019 bei Grafikern und Designern sowie Sprach- und Kulturwissenschaftlern bei „nur“ 41.000 Euro, wohingegen Informatiker mit durchschnittlich 54.000 Euro einsteigen und Rechtswissenschaftler sogar 59.000 Euro im ersten Jahr verdienen.

Um das durchschnittliche Bruttogehalt nach Beruf zu ermitteln, bietet sich der Entgeltatlas der Bundesagentur für Arbeit an. Die Daten werden regelmäßig aktualisiert und für jedes Bundesland ausgegeben. Das funktioniert für Berufe mit Einkommen, die die Beitragsbemessungsgrenze nicht überschreiten, ausgezeichnet. Da von den Arbeitgebern das sozialversicherungspflichtige Bruttogehalt nur bis zu dieser Obergrenze (derzeit 5.700 Euro) zu melden ist, werden höhere Einkommen nicht mehr erfasst. Folglich muss man für Gutverdiener auf andere Quellen zurückgreifen, beispielsweise auf Jobportale wie Absolventa oder Statistikportale wie Statista. Dadurch stammen die Zahlen für die Einkommen von Berufsgruppen zwar aus unterschiedlichen Quellen, doch einen groben Einblick zur Orientierung in Lohnunterschiede geben sie dennoch.

Mediziner
6.893 € (Brutto-Monatslohn im ø)
Business Developer
5.880 €
Wirtschaftsingenieur
5.857 €
Banker
5.753 €
Elektrotechniker
5.750 €
Friseur
1.559 € (Brutto-Monatslohn im ø)
Bäckereifachverkäufer
1.718 €
Kellner
1.808 €
Callcenter-Agent
1.929 €
Gebäudereiniger
1.950 €

Ungerechtigkeit zwischen Männern und Frauen

Dem Online-Portal Statista zufolge lag der durchschnittliche Monatsverdienst für Erwerbstätige in Vollzeit im Jahr 2017 bei 3.771 Euro brutto, wobei Männer 3.964 Euro und Frauen 3.330 Euro verdienten. An diesen Zahlen lässt sich eine weitere Ungerechtigkeit ablesen: Der sogenannte Gender Pay Gap, also der Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen bei gleicher Tätigkeit und Arbeitszeit. Bezieht man sich auf die Zahlen von Statista, betrug dieser Abstand 2017 „stolze“ 21 Prozent des Bruttogehalts.

Anhand dieser Zahlen lässt sich ableiten, dass Deutschland ein überaus ungerechtes Land ist. Die Einkommenshöhe richtet sich nach einer geografischen, einer branchen-, einer berufs- und einer geschlechtsspezifischen Dimension. Bezöge man jetzt noch die Dimensionen „Bildung“ und „Herkunft“ ein, würde sich ein sehr komplexes und in höchstem Maße ungerechtes Abbild der Wirklichkeit in Hinblick auf eine wünschenswerte Chancengleichheit ergeben. Dass die Politik gefordert ist, für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, steht außer Frage.

Die geografische Ungerechtigkeit wird in Artikeln häufig mit einer unterstellten höheren oder niedrigeren Lebensqualität bzw. unterschiedlichen Lebenshaltungskosten abgefedert. So verdiene man in Berlin in vielen Branchen grundsätzlich etwas weniger als beispielsweise im Süden Deutschlands, weil dort Lebensmittel und Co. günstiger seien. Betrachtet man jedoch die ständig steigenden Mieten in der Hauptstadt, ist dieses Argument höchst zweifelhaft. Und ließe sich bezüglich der branchen- und berufsspezifischen Ungerechtigkeit noch der lapidare Spruch „Augen auf bei der Berufswahl“ entgegnen – die Gehaltstabellen sind kein Geheimnis und für jedermann einsehbar –, kann hinsichtlich der Ungerechtigkeit bei der Bezahlung von Männern und Frauen kein einziges entkräftigendes Argument herangezogen werden.

Einseitiges Vergleichen macht unglücklich

Solche Zahlen können frustrieren, Millionen Arbeitnehmer in Deutschland müssen sich beim Lohnvergleich als Verlierer fühlen. Doch es gibt noch eine andere Lesart – je nachdem, welchen Blickwinkel man einnimmt und welche Daten man zurate zieht. Denn insgesamt betrachtet steigt das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland stetig. Heute haben die Deutschen dem Handelsblatt zufolge über zwölf Prozent mehr Geld auf ihren Konten als noch im Jahr 2000. Die Finanzzeitung bezieht sich dabei auf eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung.

Der Ökonom Brako Milanovic hat in seinem 2012 erschienen Buch „The Haves and the Have-Nots“ berechnet, dass man 2005 bereits mit einem Jahresverdienst von 26.567 Euro (34.000 US-Dollar) zum reichsten einen Prozent der Welt gehörte. Fast die Hälfte der Menschen, die zu diesem einen Prozent gehörten, waren US-Amerikaner (ca. 29 Millionen). Auf Platz zwei folgte bereits Deutschland mit vier Millionen Menschen. Zur globalen Mittelschicht durfte man sich bereits mit 956 Euro (1.225 US-Dollar) zählen – Jahresgehalt. Natürlich ist 2005 lange vorbei und solche Zahlen wirken leicht populistisch, weil sie einerseits häufig nicht die jeweiligen Lebenshaltungskosten der Länder und andere Faktoren berücksichtigen und man andererseits generell die Methodik von Milanovic kritisch untersuchen müsste.

Doch auch neuere Zahlen sprechen dafür, dass diese globale Ungerechtigkeit in unverschämtem Maß existiert, ja sogar zugenommen hat. Die Hilfsorganisation Oxfam kommt in ihrem Bericht „Public Good or Private Wealth?“ vom Januar 2019 zu der Erkenntnis, dass die 26 reichsten Milliardäre der Welt über das gleiche Vermögen wie die ärmsten 50 Prozent der Menschen (rund 3,8 Milliarden) verfügen. Außerdem wird exemplarisch aufgezeigt, wie die Schere zwischen Reich und Arm zunehmend auseinander klafft: Während der Amazon-Gründer Jeff Bezos sein Vermögen im vergangenen Jahr verdoppeln konnte, verloren die Ärmsten der Armen weitere elf Prozent ihres Besitzes.

Globaler Blickwinkel: Deutschland gehört zu den Gewinnern

Die Frage nach Gerechtigkeit ist folglich untrennbar verbunden mit der Frage nach der Perspektive. Zweifelsohne gibt es in Deutschland viele soziale Ungerechtigkeiten, die politisch bekämpft und eingedämmt werden müssen. Diese Aufgabe gehört gemeinsam mit den Themen Wohnungsbau, Klimaschutz und Nachhaltigkeit ganz oben auf die Agenda der Regierung. Und dennoch sollte man sich bewusst sein, worüber man sich – verglichen mit dem Rest der Welt – beklagt. Um nicht unglücklich zu werden. Und aus Respekt vor den vielen Milliarden Menschen, die in ihren Leben nicht die Chance hatten und niemals haben werden, die Bedürfnispyramide nach Maslow auch nur ansatzweise zu erklimmen. Das kann erden und zufriedener machen. Zur Veranschaulichung lohnt es sich, nicht nur die durchschnittlichen Einkommen in Deutschland, sondern weltweit zu betrachten:
Monaco
126.516 € (Jahreseinkommen im Ø)
Liechtenstein
83.381 €
Bermuda
79.919 €
Schweiz
71.816 €
Norwegen
67.416 €
Deutschland (Platz 19)
38.683 €
Madagaskar
354 €
Demokratische Republik Kongo
407 €
Afghanistan
496 €
Äthiopien
655 €
Kenia
1.292 €
Bangladesch
1.301 €

Die Zahlen werden von verschiedenen Institutionen wie der Weltbank, dem Internationalem Währungsfond oder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) jährlich neu berechnet. Auch hier gilt: Es gibt kein einheitliches Verfahren, um Dimensionen wie Inflation, Währungsschwankung oder Kaufkraft zu messen. Die obige Auflistung errechnet sich aus dem Quotienten des Bruttonationaleinkommens und der Einwohnerzahl des Landes. Diese statistische Herangehensweise offenbart Schwächen, doch der grobe Überblick dürfte ausreichen, um ein Gespür dafür zu entwickeln, was geografische Ungleichheit global gesehen bedeutet.

Ungerechtigkeit innerhalb Europas

Arbeitnehmer in Deutschland müssen mitnichten in arme asiatische und afrikanische Länder schielen, um sich reich zu fühlen. Es genügt bereits der Blick zu den europäischen Nachbarn. Schon die Italiener (27.600 Euro pro Jahr) und Spanier (24.033 Euro) verdienen im Durchschnitt deutlich weniger, die Portugiesen (17.642 Euro) nicht mal die Hälfte. Und die Ungarn, Polen und Kroaten erwirtschaften sogar nur rund ein knappes Drittel des durchschnittlich in Deutschland erzielten Jahreseinkommens. Dabei listet die Einkommenstabelle nur 77 Länder auf, in denen offizielle Zahlen bereitgestellt werden. Mit anderen Worten: Instabile und umkämpfte Länder ohne feste Organisationsstruktur werden gar nicht erst erfasst. Das durchschnittliche Einkommen in diesen Ländern dürfte Wirtschaftsexperten zufolge jedoch erschreckend gering sein.

Jeder Arbeitnehmer in Deutschland hat das Recht, seinen Lohn zu vergleichen und sich für mehr Lohn einzusetzen. Und jeder Mensch hat das Recht, subjektiv unzufrieden zu sein, weil der Lohn nicht dem angenommenen Arbeitswert entspricht. Doch bevor man sich in zermürbende Gedankenspiralen vertieft und versteift, die im schlechtesten Fall zu permanentem Frust und gesundheitlichen Schäden führen, könnte man sich hinterfragen, mit wem man sich – und ob überhaupt  vergleichen möchte. Um es im Sinne des französischen Philosophen Voltaire zu formulieren: Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein.